Dienstag, 05.04. Gutes tun - Brotretter

Sonnig ist es draußen und voll in der ersten "Brotretter"-Filiale Hamburgs, als Stephan Karrenbauer sich mir mit einem Kaffee gegenüber setzt. "Das war bei der Eröffnung auch schon so: Die Tür ging auf und die Leute kamen", erklärt der Hinz und Kunzt-Sozialarbeiter. Am 31. März wurde die Filiale in Bergedorf eröffnet, die Idee entstand allerdings bereits vor ungefähr einem Dreivierteljahr.

Brotretter-Hamburg

Obwohl die Bäckereikette Junge die Backwaren, die jeden Tag nach Ladenschluss übrig blieben, bereits zu großen Teilen an die Tafeln spendete, war der Überschuss an unverkäuflichen Waren immer noch immens groß. Was also tun? Die Brote, Brötchen, süßen Stücke etc. einfach zu vernichten oder als Viehfutter zu verwenden, schien verschwenderisch. Das "Brotretter"-Geschäft soll genau das tun, was der Name impliziert: Backwaren vom Vortag "retten". Die Theken der Filiale sind voll mit Franzbrötchen, Brot, Croissants, Brötchen, Berlinern und allem, was normale Junge-Bäckereien auch verkaufen. Die schiere Masse an Backwaren, die sonst überflüssig wären, ist überwältigend. Niels Nattermüller, Vertriebsleiter der Bäckerei Junge, stellt klar, dass alle bei "Brotretter" verkauften Produkte von einwandfreier Qualität sind - nur eben vom Vortag. Das wird vor allem bei den Preisen deutlich: Zwischen 29 Cent und 1,29€ kosten die Backwaren, deutlich weniger als im regulären Verkauf. Das ist wohl ein Grund für die nicht abreißende Schlange von Kunden und Kundinnen, die während unseres Gespräches vor der Ladentheke stehen.

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Ein weiterer Grund sind die Menschen hinter der Theke: Einige tragen rotweiß karierte Hemden mit dem Junge-Logo, andere schwarze Polohemden mit dem "Brotretter"-Logo und einem Button, auf dem steht "Ich bin neu". Sie sind der Grund, warum Stephan Karrenbauer mit am Tisch sitzt: Ein Teil der Verkäufer bei "Brotretter" sind "Hinz und Künztler". Sie waren vorher zumeist arbeits- und obdachlos. Jeder Einzelne bringt eine Geschichte mit, die von Chancenlosigkeit und vom Rand der Gesellschaft erzählt. Von der Angst, wenn die Kinder krank wurden und der Gang zum Arzt ohne Krankenversicherung zum Horrortrip wurde zum Beispiel. Durch ihre Anstellung bei Brotretter bekommen die Männer, die vorwiegend aus Osteuropa stammen, nicht nur wieder Zugang zum Sozialsystem, sondern vor allem eine Chance, sich auf dem Arbeitsmarkt zu beweisen, zu etablieren. Wenn ihnen der Job gefällt und sie alle nötigen Fähigkeiten erworben haben, können sie sich in einer "normalen" Filiale der Bäckerei Junge bewerben und Platz für andere Hinz und Künztler bei "Brotretter" machen. Als geschützten Raum, um in den Beruf in einer Bäckerei zu finden, sieht Karrenbauer die Bergedorfer Filiale: "Hier darfst du mal 'nen Fehler machen, ohne dass gleich einer böse guckt." Nattermüller ergänzt, dass die Junge-Angestellten, die sich um die Ausbildung der Hinz und Künztler kümmern, ihre Posten bei "Brotretter" alle freiwillig und somit hochmotiviert angetreten hätten. Während er das sagt, hilft eine Dame im rotweißen Hemd einem Herrn im schwarzen Polo bei der Bedienung der Kasse, eine andere erklärt, wie man die belegten Brötchen richtig schmiert und anrichtet. Diese sind die einzigen Waren, die frisch in der Filiale zubereitet werden und somit etwas teurer sind.

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Für den Vertriebsleiter ist das Schönste an der Arbeit mit "Brotretter" "der ehrliche soziale Aspekt dahinter": Alle Mitarbeiter anderer Junge-Filialen nehmen ohne Murren den zusätzlichen Arbeitsschritt des Vorsortierens ihrer überschüssigen Waren auf sich, alle sind begeistert von dem neuen Konzept. Auch weil es auf die Frage "Und was passiert mit den Sachen, die übrig bleiben?" endlich eine zufriedenstellende Antwort liefert. "Es ist eine Win-Win-Win-Situation für alle", lacht er. "Da ist einfach ein großes Herz dabei!"

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Die beiden Männer strahlen, beide sind froh, dass das Projekt bisher so gut anläuft. Es soll ein Laden für jedermann werden und natürlich die Kosten decken. Durch die niedrigen Preise ist dafür ein recht hoher Umsatz nötig, was bisher jedoch einwandfrei funktioniert. Finanzielle Überschüsse aus dem Verkauf der Back-Überschüsse kommen Hinz und Kunzt zugute. Wer den Umsatz der "Brotretter" ankurbeln möchte, kann das von Montag bis Samstag ab 8:00 Uhr morgens tun. Dann kommen in der Filiale die ersten Restwaren aus den Bäckereien in der Umgebung an. Gegen Mittag kommt dann der zweite Schub aus der zentralen Sortierstelle in Lübeck. Geöffnet hat die Bäckerei, so lange ihr Vorrat reicht. Dies ist bisher meist am frühen Nachmittag der Fall, es lohnt aber, früh zu kommen, um quasi aus dem Vollen schöpfen zu können. Ich bringe von meinem Besuch nicht nur ein breites Grinsen und unbändige Freude über so viel gelebte Solidarität und die echte Begeisterung der Beteiligten, sondern auch eine Tüte gemischter Brotscheiben mit. Kostenpunkt: 49 Cent. Mein Mitbewohner klassifiziert diese schnell als "voll das Premium-Brot" und ist etwas geknickt, als er erfährt, dass er dafür leider nach Bergedorf fahren muss.

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Andere lassen sich von der Lage von "Brotretter" jedoch nicht so leicht abschrecken: Während des Gesprächs mit Stephan Karrenbauer und Niels Nattermüller tritt eine ältere Dame zu uns an den Tisch und erklärt, sie würde jetzt immer hier herkommen, um ihr Brot zu kaufen, auch wenn sie dafür etwas weiter fahren müsse. Damit bestätigt sie, was beide kurz zuvor konstatierten: In der "Brotretter"-Filiale herrscht großer Redebedarf. Die ausliegenden Flyer sind in Rekordgeschwindigkeit vergriffen und immer wieder stellen Kunden und Kundinnen Fragen zum Konzept. Die Reaktion der meisten entspricht der der älteren Dame: "Das Konzept finde ich sowas von super!", strahlt sie in die Runde, und Sozialarbeiter und Vertriebsleiter schauen sich zufrieden an: So kann es weitergehen.

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Brotretter | Alte Holstenstraße 12 | Montag bis Samstag 8:00 Uhr bis der Vorrat alle ist, Sonntag geschlossen

Brotretter

Alte Holstenstraße 12, 21031 Hamburg

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