Clubs von gestern: Weltbühne (2002-05)

Senf und Zeit sind zwei grundverschiedene Ressourcen, die man allerdings gleichermaßen mit Vorsicht dosieren sollte. Wird beides über die Maßen vergeudet, geht es schließlich entweder zulasten des Geschmacks oder der Lebensqualität. Nun sind natürlich andere Substanzen weit mehr von globaler Verknappung betroffen als Senf und Zeit. Süßwasser zum Beispiel, seltene Erden oder auch Kabeljau. Trotzdem ist es bedenklich, wenn die beiden Rohstoffe aus vollen Rohren verschossen werden, wie damals, vor fast genau zehn Jahren, in der Weltbühne.

Und das kam so.

An einem Tag im Frühjahr, vermutlich fast Wochenende, hatte Tino Hanekamps und Alvaro Piñas pittoreskes Clubwunder am Nobistor die Band Jeans Team auf dem Programm. Heiterer Elektropop aus Berlin mit Hang zum digitalen Aberwitz, aufmerksamkeitsökonomisch eher nebensächlich, aber allemal einen schönen Tanzabend wert. Wenn sie denn kommen.

Doch sie kamen nicht. Und kamen nicht. Und kamen nicht. Nicht um elf, wie an der verwüsteten Stahltür parterre plakatiert. Nicht um zwölf, wie von Angestellten bald in Aussicht gestellt. Auch nicht um eins, als ich im Kreise ebenso genervter Freunde die Faxen dicke hatte und die funktionsuntüchtige Rolltreppe abwärts am Phonodrome vorbei Richtung Kiez verschwand, Aufnimmerwiedersehensflüche im Hals. So nicht! Nicht so!

Die legendäre Rolltreppen in der Weltbühne. © Weltbühne
Die legendäre Rolltreppen in der Weltbühne. © Weltbühne

Natürlich kamen wir der legendären Weltbühnen-Zeitverschwendung zum Trotz alle wieder, und nicht nur einmal, sondern ständig. Der anarchistische Wohnzimmerclub mit Holstenstraßenblick war Anfang der 2000er schließlich das Beste, was Hamburgs alternative Partykultur zu bieten hatte. In dem verlassenen Bekleidungskaufhaus, in dem zuvor Kinder stilunsicherer Eltern mit Hosen der Marke Palomino gemartert wurden, pulsierte der Sound jener Tage ja am heftigsten.

Ganz unten das Phonodrome, damals derbster Technoclub in zentraler Lage, den sein Gründer, die örtliche Powerhouse-Größe Wolf von Waldenfels, 2002 aus einer alten Autowerkstatt am Zirkusweg ins vormalige Unit am Westende der Reeperbahn verlegt hatte. Er bot fortan 202 Beats pro Minute und mehr für dauergestromte Teenager-Synapsen. Die jungen Besucher, oft aufgereiht zu Hunderten, blickten die Bomberjackentürsteher so abgebrüht erwachsen an, dass die wenigen Gäste über 25 für derlei schauspielerisches Geschick zuweilen Applaus auf offener Straße spendeten.

Im Seiteneingang ging es ins Click, eher gediegen als stampfend, Ambient, Deephouse, Runterkommzeugs. Darüber lag die Echochamber, ein Backsteinverschlag mit ebenerdiger Bühne für alles, was analog Asyl erbat in diesem digitalen Eldorado der Hansestadt. Und Wand an Wand, mit freiem Blick durch mächtige Fenster zur Holstenstraße:

Die Weltbühne, knallroter Irrsinn im WG-Format.

Womit wir beim Senf wären.

Knapp zwei Jahre nach der eigenen Eröffnung und gute drei nach der des ganzen Komplexes, als sein Abriss schon einen festen Termin hatte, zeigte sich Hamburgs Subkultur nochmals von ihrer originellsten Seite und lud zur “All-you-can-eat-BBQ-Gala” in die Weltbühne. Die lokale Countrypunk-Ikone Butch Meier spielte auf, sein Grillmeister schleuderte in blutiger Metzgerschürze kiloweise rohes Fleisch auf den Rost und sodann in den Saal. So lange, bis das Plüschambiente unter Rauchschwaden verschwand.

Selbst die autonomen Veganer im entfesselten Publikum drückten angesichts der performativen Metaebene ein Auge zu – bis sie beide zudrücken mussten, als Butch Meier aus einem Feuerlöscher verdünnten Senf verspritzte. Viel Senf. Literweise. So reichlich, dass es die gemütlichen Separees in der Wand gegenüber ebenso gelb färbte wie die durchgesessenen Sofas ringsum. Es war ein Inferno.

Und es war das Ende. Nach gerade mal 21 bewegten Monaten schloss die Weltbühne. Ende 2005, an Silvester, stieg die große Abschiedsparty des gesamten Betonklotzes. Das Phonodrome hieß bereits KdW und die Bagger scharrten schon mit den Schaufeln, um an gleicher Stelle das zu errichten, was im August zuvor ohne jede Vorwarnung angekündigt worden war: den neuen Flügel der privaten Endo-Klinik. Blitzeblank steht der neue Gebäudetrakt heute in aseptischem Weiß am leblosen Verkehrsring und wartet auf zahlungskräftige Patienten statt auf tanzwütige Partypeople.

Hamburger Subkulturbereinigung in Reinform, ersatzlos gestrichen, weitergehen bitte!

Und plötzlich erscheint die Ressourcenvergeudung viel wärmer. Ein nostalgisch verklärtes Licht umgibt sie. All die Stunden, aufaddiert ganze Wochen, die zahlende Gäste vergeblich auf auch nur annähernd pünktlichen Konzertbeginn hofften. All der Senf, den man selbst nach mehrmaligem Waschen nie wieder aus den Klamotten kriegte. All der Schweiß, der von den Panoramascheiben lief, wenn die Weltbühne mal wieder tobte wie Hamburg selten tobt. Nur wohlige Erinnerungen an ein paar Jahre anarchistischer Unterhaltung, die so nie wieder kommt, nicht an diesem Ort, der keine dreckigen Flecken mehr duldet. Zu finden ist sie höchstens noch in luftiger Höhe, auf dem Flakbunker an der Feldstraße: Dort eröffneten die zwei displaced persons Waldenfels und Hanekamp bald darauf ein Asyl namens Uebel & Gefährlich.

Nach der Abrissparty: Alvaro Piñas und Tino Hanekamp. © Weltbühne
Nach der Abrissparty: Alvaro Piñas und Tino Hanekamp. © Weltbühne

 


Die Artikel für unsere Serie "Clubs von gestern" hat Jan Freitag verfasst. Sie sind auch auf seiner Seite www.freitagsmedien.com nachzulesen, wo sie zuerst erschienen sind.

 

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