Clubs von gestern: Heinz Karmers Tanzcafé (1994-97)

Erinnerungen an alte Orte des wilden Feierns und wehen Erwachens, der knietiefen Abstürze und schmerzhaften Auferstehung sind häufig nicht nur zigarettenrauch- bis bierdunstgetrübt; sie verfliegen förmlich im Nebel nostalgischer Rückbesinnung auf durchzechte Nächte, die vielleicht besser waren, aber eben auch krasser, extremer, manchmal richtig böse. Wie zerbombte Kirchtürme ragen sie dann aus den Trümmerlandschaften persönlicher Geschichtsschreibungen hervor oder ekliger ausgedrückt, eklig wie, sagen wir, die Klos im Heinz Karmers: wie braune Zahnstümpfe aus einem ungepflegten Gebiss.

Aufgemalten Schimmelflecken und Bierflaschenabräumverbot, um dem pillenbunten Folgejahrzehnt der aseptischen Achtziger etwas entgegenzusetzen.

Es befand sich ringsum, damals, vor auch schon wieder mehr als 20 Jahren: Der Kiez, Mitte der Neunziger noch immer reichlich ungewaschen, roh, ludendominiert und waffenverbotsschilderfrei, weil das ohnehin kaum exekutierbar gewesen wäre. Gegenüber lag wie heute das Stadion, nur war es eine bessere Bretterbude, in der glaubhaft „Nazis raus!“ gebrüllt wurde, die dann wirklich auch raus sind, Richtung Reeperbahn, um mit Autonomen oder der Polizei Bambule zu machen. Und dazwischen, noch ungewaschener, noch roher, aber luden- wie verbotsschildfrei: Das Heinz Karmers. Bis 1994 eine „Asso-wir-saufen-uns-tot-Kneipe“, wie Oliver Hörr mal erzählte, aus der für die darauffolgenden drei Jahre ein „Asso-wir-saufen-uns-tot-haben-dabei-aber-mehr-Spaß-Club“ wurde, den der Mitbetreiber in einer versifften Domschänke installiert hatte und einfach weiter versiffen ließ. Gezielt, raunte man sich zu, mit aufgemalten Schimmelflecken und Bierflaschenabräumverbot, um dem pillenbunten Folgejahrzehnt der aseptischen Achtziger etwas entgegenzusetzen.

Barkräfte, die das Wort „Service“ fürs Porzellanset in der elterlichen Vitrine vorbehielten.

Es ist nicht so leicht, Erinnerungen an diesen alten Ort des wilden Feierns und wehen Erwachens wachzurufen, die über den optischen Zustand des Ladens substanziell hinausreichen. Viele kamen schon vorgeglüht an, verharrten in der Menschentraube vorm bröckelnden Flachbau mit den blickdichten Fenstern. Und sie mieden den Weg vorbei an immobilen Herumstehenden zum winzigen Tresen elegant überforderter Barkräfte, die das Wort „Service“ fürs Porzellanset in der elterlichen Vitrine vorbehielten und grundsätzlich niemanden bedienten, der ihnen am nächsten stand, sondern lieber irgendwem im hintersten Eck mit lautstarken Kommandos das Astra zureichen ließen, was zwar kommunikativ und abenteuerlich war, aber schrecklich ungerecht.

Auch deshalb blieb ich gern vor der Tür statt dahinter, hab bei Nordwind auf der ungeschützten Hauptverkehrsadervorfläche halt den Trainingsjackenreißverschluss überm Hoodie, der seinerzeit noch Kapuzenpulli hieß, hochgezogen und bin allenfalls im Winter oder nach verregneten Heimspielen des benachbarten Fußballclubs reingegangen. Wobei auch dann der Weg das Ziel war. Denn Hamburgs härteste Tür, sie mag seinerzeit das Top Ten in Blickweite verschlossen haben; den härtesten Gang hatte Heinz K. Er war gewissermaßen Türsteher, Tür, Zu- und Rückweg in Personalunion, weniger eng als inexistent. Womöglich lud er grad deshalb stets ein Drittel der Gäste zum Verweilen ein.

Immerhin entging man in der dortigen Kakophonie aus Stimmengewirr, Durchzug und Toilettenspülung dem paradoxen Klangsalat vom einzigen Raum, der an guten Tagen aus heillos übersteuertem Live-Sound von heillos untrainierten Bands wie Boy Division stammte, die sich angeblich hier gegründet hatten, an weniger guten Tagen Shanties und Surf-Trash-Punk mit Schlager kompilierte, an schlechten alles zugleich übereinander legte, weil wieder mal wer mit ausgeleierten Musikkassetten auflegte. Umso bemerkenswerter, dass die Legende am Übergang von der Kneipen- zur Clubkultur zum Fluchtpunkt wurde. Ein Heimatsurrogat. Zuhause.

Denn ob es die konsequente Regellosigkeit war, der kunstvolle Dreck, das kollektive Koma: hier herrschte noch (un)gepflegtes Miteinander des Inseldaseins an einer dicht befahrenen Monsterkreuzung, die schon damals bis aufs Karmers tot war und nun eben mausetot ist. Denn als der marode Flachbau in einer legendären Abschiedsparty vor 18 Jahren vom eigens herbeigeeilten Eventpublikum im Schutze der Nacht sprichwörtlich dem Erdboden gleichgemacht wurde, war im Sog der aufkommenden Gentrifizierung des angrenzenden Schanzenviertels mit allem zu rechnen: Cocktaillounge, Einkaufszentrum, Hochhauskomplex, Mehrzweckhalle. Dass dort allerdings das entstünde, was nun dort ist, erschien im Tränenmeer des Wohnzimmerverlustes selbst eingefleischten Miesmachern undenkbar.

Wo das Heinz Karmers einst von zwei Werbewänden umrahmt wurde, ist heute: Nichts.

Außer Zäunen, Asphalt, gähnender Leere. Kein Mensch hält sich da auf, niemals, nirgendwo. Selbst die Fans des FC, der seine Heimspiele längst in der schicken Stadtteilarena austrägt, gehen nach Abpfiff achtlos vorbei oder nutzen das Areal als öffentliches Pissoir, das Nobelhotel East vor Augen, errichtet auf den Ruinen des Muckibuden-Rap-Schuppens Powerhouse, von dem sich hier auch keine Spur mehr findet. Vielleicht ist es ganz gut so, dass der gierige Kraken Kiez seine Tentakel nicht bis hier auswirft, wo St. Pauli Wohngebiet ist und auch ein weiterbetriebenes Tanzcafé früher oder später entdeckt worden wäre vom Eventmarketing. Womöglich waren drei Jahre genug, und der Original-Tresen war ja noch ein paar mehr auf Reisen durch Hamburgs alternative Clubkultur. Die Erinnerung schmerzt zwar, aber Trainingsjacken trägt ja auch kein Mensch.


Die Artikel für unsere Serie „Clubs von gestern“ hat Jan Freitag verfasst. Sie sind auch auf seiner Seite www.freitagsmedien.com sowie auf zeit.de nachzulesen, wo sie zuerst erschienen sind. Weitere Folgen der Serie findest hier.

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