Glaube, Liebe, Hamburg: Die nicht so magische 30

© Lina Hansen

Segel Setzen #10

„Du bist mit 27 mit deinem Bachelor fertig? Ist doch super, mit 30 bist du dann doch auch mit dem Master durch und hast schon den Job-Einstieg geschafft“

Mal abgesehen davon, dass viele Lebenswege vielfältiger als „Bachelor-Master-Berufseinstieg“ und eher so „Realschulabschluss-Ausbildung-Abitur-Bachelor-Berufseinstieg-Berufswechsel-Master-Nebenjob-Berufswechsel“ sind, wundert mich bei dieser Argumentation immer eines: Die Fixierung auf die magische Zahl mit der Drei und der Null.

Was soll denn bitte an unserem 30. Geburtstag passieren? Schließen sich dann alle Türen bis auf die eine, für die wir uns bis in alle Ewigkeit entscheiden müssen? Ist es dann nicht mehr erlaubt, zu zweifeln, zu wechseln, zu diskutieren, zu lernen, zurück zu wechseln?

Der Sprint durch's Leben

Bei aller Verwunderung darüber kann ich mich selbst von dem Gedanken an die 30 auch nicht befreien. Warum ist das eigentlich so, dass wir der Meinung sind, dass die wichtigsten Grundsteine unseres restlichen Lebens in unseren Zwanzigern gelegt werden müssen?

Und warum fange ich hier eigentlich schon wieder an, von einem „restlichen“ Leben zu reden?

Wenn wir aus der Schule kommen, ist es, als würden wir lossprinten. Abitur – auf die Plätze, fertig, los! Es werden in rasender Geschwindigkeit Auslandsaufenthalte, Ausbildungen, akademische Titel, Praktika, Berufseinstiege und Berufswechsel abgehandelt. Immer mit der Prämisse, möglichst mit 30 „angekommen“ zu sein. Und ja, diese rasende Geschwindigkeit, die mag ich sogar. Ich erreiche gern schnell viele Ziele. Ich sammle Erfahrungen, wo ich nur kann und nehme mit, was geht – um aus diesem Wust dann irgendwann alles zu einer bestimmten Erkenntnis eindampfen zu können: Die Erkenntnis, was ich aus dem ganzen Krempel machen will. Solange die Erkenntnis nicht auftaucht, husch, husch, weiter Erfahrungen sammeln, weiter Stationen abgrasen, weiter nützliche Projekte vorantreiben.

Das ist super und bringt uns als Persönlichkeiten unheimlich weiter. Ich bin froh über jeden Schritt, den ich gegangen bin. Froh über jede Veränderung, froh über jede Möglichkeit, meinen Horizont zu erweitern. Jetzt, mit 27, spüre ich jedoch plötzlich so einen Druck, der da aus der drei Jahre entfernten Zukunft auf mich abstrahlt.

"Das hättest du in den 20ern machen sollen"

Die 20er werden ja auch nicht nur für unsere Karriere zur Verantwortung gezogen. Nein, in diesem Jahrzehnt sollte das Partyleben ausgekostet, möglichst viel und möglichst weit gereist werden und überhaupt sollte man sich jung und frei fühlen und spontan sein und mit einem Weinglas auf Hausdächern tanzen. Genieße es, koste es aus – so die Prämisse.

Also sorry, aber wenn mit 30 jemand ankommt und sagt „Das hättest du aber in deinen 20ern machen sollen, dafür waren die da!!1“, dann werde ich wahrscheinlich einfach nur lachen.

Als ich Anfang 20 war, hatte ich bereits das Gefühl, nicht „genug“ zu tun. Weil ich nicht in jedem Lebensbereich Vollgas gegeben habe, hatte ich ein latent schlechtes Gefühl – ich könnte, ich müsste und überhaupt, die 20er sind doch angeblich die geilste Zeit, die muss man doch ausnutzen, oder nicht? Nun, ein paar Jahre später ärgere ich mich tatsächlich. Aber ich ärgere mich nicht über Dinge, die ich nicht erlebt habe – ich ärgere mich darüber, dass ich mir so einen Druck machen musste. Dass ich nicht gut genug zu mir war, mal Fünfe grade hab sein lassen.

Die Essenz ist im Falle des Falles das, was du trotz der 30 getan hast

Was hat die 30 mir getan – und warum gehe ich irrationalerweise davon aus, dass bis dahin alles Wichtige und Aufregende geschehen sein muss? Dass ich bis dahin ein fertiger Mensch sein muss?

Würde nach der 30 alles seinen geregelten Gang gehen, wäre ich in Wahrheit ziemlich enttäuscht. Wie langweilig wäre das Leben, würde es zwischen 20 und 30 alles für uns bereithalten und danach nicht mehr viel in uns investieren? Was für eine traurige Zukunft wäre das?

Vielleicht bin ich auch erst mit 37 mit meinem Master fertig und habe zwischendurch viel gearbeitet, habe geheiratet, mich scheiden lassen und habe eine Weltreise hinter mir.

Vielleicht entscheide ich mich gegen einen Master.

Vielleicht kommt es mir mit 42 in den Sinn, ein Café in der Provence zu eröffnen.

Und vielleicht schreibe ich mit 55 immer noch Generation Y-Texte über meine Befindlichkeiten. Weil ichs geil finde.

Aber was ich sicher sagen kann: Ich werde alles dafür tun, dass ich meine 20er nicht mehr komplett für meinen weiteren Lebensweg verantwortlich mache. Dafür sind sie nämlich viel zu kostbar – wie jedes andere Jahrzehnt auch.

Lina ist geboren und aufgewachsen in Hamburg und hat auf keiner ihrer Reisen jemals eine Stadt gesehen, die sie so gefangen nimmt. In ihrer Kolumne "Segel setzen" schreibt sie regelmäßig über die großen und kleinen Themen des Alltags einer Mittezwanzigjährigen – und natürlich über die Liebe zur Herzensstadt.

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