Lesevergnügen #1 - WIR HABEN RAKETEN GEANGELT von Karen Köhler
Wir alle verlieren dann und wann mal etwas: unseren Schlüssel, unser Herz, unseren Verstand. Manchmal ist dieser Verlust schmerzlich und manchmal ist er befreiend. Und genau darum geht es auch in Karen Köhlers Debüt, ihrem Erzählband WIR HABEN RAKETEN GEANGELT, der gerade bei Hanser erschienen ist.
Köhlers Protagonisten haben alle auf die ein oder andere Weise etwas verloren: einen Rucksack, einen Menschen, ihre Identität. Sie alle befinden sich in einem Zwischenstadium (dem Vakuum nach dem Verlust des im Moment Wichtigsten) und genau in jenem Stadium lernen wir sie kennen.
Da ist ein Mädchen, das von einem Indianer gerettet wird, der eigentlich Bill heißt und bloß verkleidet ist. Da ist ein Mensch, der Postkarten schreibt und während er die Landschaft, das Essen, die Menschen seiner Reise in Worten einzufangen versucht, beschreibt er zwischen den Zeilen doch immer bloß sich selbst und seine Suche. Wir treffen auf Menschen, die zurückkehren in die Dörfer ihrer Kindheit und Jugend – mal tatsächlich, mal bloß in Gedanken. Und sie alle haben auf dem Weg etwas verloren, haben sich verlaufen und sind schließlich stehengeblieben. Aber in jedem Leben kommt irgendwann der Moment, in dem ein einziger Augenblick plötzlich eine Kettenreaktion auslöst und alles ist wieder da: das Vergangene, der Schmerz, die Angst.
Köhler gibt all diesen Menschen und ihren Momenten eine Stimme, mal lethargisch, mal wütend und mal ganz und gar gleichgültig. Ihre neun Geschichten sind verspielt und rotzig, poetisch und brutal. Sie alle machen deutlich: Wir sind die Summe unserer Vergangenheit und während wir uns daran erinnern, was wir alles schon verloren haben, finden wir manchmal etwas, das weitaus wahrhaftiger ist – uns selbst, in unserer ganzen Ängstlichkeit, Ekelhaftigkeit, voller Scham, aber auch voller Wille, weiterzugehen, nicht aufzuhören mit diesem verrückten, komplizierten Leben.
WIR HABEN RAKETEN GEANGELT ist ein prosaisches Meisterwerk einer Autorin, die die Schwere ihrer Protagonisten mit beeindruckender Leichtigkeit zu umschreiben weiß, die mit einer Momentaufnahme eine ganze Biographie verständlich macht, die das Scheitern, Verlieren, Wiederfinden zu einem kollektiven Erlebnis werden lässt, denn: etwas zu verlieren gehört zum Leben und eben jenes ist trotzdem weiterzuleben, zu überleben (und manchmal eben auch nicht), zu überstehen.
Zurecht ist Köhler mit der im Buch ersten Kurzgeschichte („Il Commandante“) zum Wettlesen in Klagenfurt eingeladen worden. Denn Köhler, die nicht nur schreibt, sondern auch illustriert und ausgebildete Schauspielerin ist, hat eines der besten Bücher des Herbstes 2014 geschrieben, dessen Release sie am 4.9. im Hamburger Buchladen „Cohen+Dobernigg“ in der Schanze feiert. Wir werden dort sein und den Geschichten dieser wunderbaren Frau zuhören und haben jetzt schon ein bisschen unser Herz an sie verloren.
FACTS:
Bei Hanser erschienen (25.08.2014)
240 Seiten
Hardcover
19,90 €
LESEPROBE(PDF)