Glaube, Liebe, Hamburg: Lass uns klicken!

Am liebsten treffe ich mich vor diesem einen Kiosk, in dem immer so viel los ist, dass die Besitzer kaum Lust haben, sich an ein Gesicht zu erinnern. Ich kaufe immer das gleiche Bier, den gleichen Schnaps, gehe raus, warte auf den Mann und dann setzen wir uns auf einen Bordstein und reden. Manchmal klappt das fantastisch, manchmal langweile ich mich, manchmal auch ihn, aber immer passiert etwas ziemlich Tolles: Ich lerne einen neuen Menschen kennen.

TabakCornern

So sehen meine Dates aus. Und manchmal lese ich beim Nachhausekommen die Artikel von anderen Menschen, die das bewerten. Die Tinder, Finya und all das für ein Symptom eines Geschwürs halten, das sich durch unsere digitale Gesellschaft zieht und dann folgen noch mehr solcher Worte, die am Ende alle etwas mit Angst und Unzuverlässigkeit und Untergang der romantischen Liebe zu tun haben. Und sowieso macht „uns“ das „alle“ (ja, alle! Auch all die, die nicht mal Internet haben, auch deine Oma, einfach alle, ALLE!) total einsam und dumm und liebesunfähig und wir vermissen niemanden mehr, wir ficken und klicken nur noch und sind traurige, arme Individuen mit traurigen, armseligen Profilen.

Klick mich

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Ich habe einen Internetzugang seit meinem 12. Lebensjahr. Meinen ersten Freund habe ich in einem Chatroom kennengelernt (nein, es war nicht Knuddelz) und viele meiner guten Freunde danach auch. Ich wohne ein bisschen im Internet, ich liebe Dinge mit WLAN, ich twittere, ich habe eine Profilneurose, ich bin egozentrisch, ich stehe dazu: Wer mir erzählt, dass nicht ein gewisser Narzissmus zu einem Selfie gehört, zu dem täglichen Posten auf Facebook, zu Bildern von eigenen Essen auf Instagram, der tut mir zwar nicht leid, aber er sollte sich ein bisschen leidtun. Denn sind wir doch mal ehrlich: Wir alle inszenieren uns mehr oder weniger ständig selbst. Nicht nur online, sondern in beinahe jeder Minute des Tages, die wir mit anderen verbringen. Das ist kulturanthropologisch schon so, seitdem wir Kleidung tragen oder uns schmücken, schminken, aufplustern. Es ist nichts Beschämendes daran, sich selbst zu präsentieren. Und am Gegenteil auch nicht. Es ist schlichtweg: egal. Es ist egal, ob du jeden Tag fünf Stunden bei Facebook abhängst oder nicht mal einen Account hast. Es ist egal, ob du Selfies magst oder nicht. Das alles sagt rein gar nichts darüber aus, ob du ein/e gut/r Freund/in bist oder nicht. Ob du liebenswert bist. Ob du schön bist (innen und außen), ob du mal glücklich sein wirst und was das für dich überhaupt bedeutet: glücklich sein.

Ständig wird „uns“ jetzt aber erzählt, dass „uns“ das alles unglücklich macht. Dass wir einsame Idioten sind, die verlernt haben, sich zu entscheiden. Die sich nicht binden können. Die immer glauben, an der nächsten Ecke wartet noch etwas Besseres. Aber, Überraschung: Ich glaube das nicht.

Lieb mich

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Ich liebe es, mich zu verlieben. Ich kann mich für einen Menschen entscheiden und ich kann sehr lange bei ihm bleiben und wenn es gutläuft, dann sogar für immer. Ich liebe Händchenhalten und Pläne schmieden, ich liebe Verbundenheit und Abgründe, alles teilen, alles lieben, alles machen wie in den Filmen. Und ich bin trotzdem bei Tinder. Und sogar noch auf einigen anderen Plattformen. Ich stalke meine Verabredungen vorher und schaue mir die Bilder an. Ich gebe ihre Namen bei Google ein. Ich mache sie zu meinen Facebookfreunden, ich folge ihnen bei Instagram, Soundcloud und Spotify. Und ich verliebe mich trotzdem in sie. Manchmal. Nicht jedes Mal und lange nicht in jeden. Sogar ziemlich selten. Aber nicht seltener, als in jene, die ich in Bars und bei Lesungen, bei der Arbeit oder in der Uni kennengelernt habe. Weil ich weiß: Das, was sie da von sich zeigen ist nur eine Seite des Menschen, der am Abend neben mir sitzen wird. Nämlich: die Unwichtigste.

Wir sind mutig

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Denn an jenen Abenden sitzt da ein Mensch vor mir. Einer mit einer Geschichte, ein ganzes kleines Universum mit einer Vergangenheit und ein paar Träumen, ein paar Lastern und ein paar Peinlichkeiten. Ein Mensch, den ich vielleicht niemals getroffen hätte, wenn wir uns nicht auf einer dieser Plattformen begegnet wären. Und wir lernen uns kennen. Wir teilen uns einen Bordstein oder eine Theke, wir teilen ein bisschen Zeit miteinander, obschon wir beide vielleicht früh rausmüssen. Wir sind mutig. Wir trauen uns, uns jemandem zu öffnen, den wir noch gar nicht kennen. Wir trauen uns, fernab von Facebook und Tinder-Profilen uns zu zeigen. Zu sagen: Schau mal, so lache ich, so sehe ich aus, wenn ich nachdenke, ich muss mal aufs Klo, kommst du noch mit zu mir, danke für den schönen Abend, ich hoffe wir sehen uns mal wieder, ich hoffe, wir sehen uns nie wieder, das ist meine Nummer, mein Zimmer, mein klopfendes Herz. Wir sagen all die Dinge, die wir auch sagen würden, wäre der Mensch vor uns der Freund des Freundes von. Oder die Arbeitskollegin.

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Ich glaube, dass es völlig egal ist, wo man sich kennenlernt. Ich glaube, dass es egal ist, ob man bei Facebook befreundet ist oder nicht. Ich glaube an die Liebe und ich glaube an Entscheidungen. Zum Beispiel an jene, sich einzulassen. Auf dieses verrückte Ding namens „Online-Dating“, darauf, sich zu trauen, jemanden kennenzulernen, sich zu zeigen.

Ich habe in den letzten Monaten sehr viele, sehr fantastische Menschen so getroffen. Und genau so viele auf der Straße, bei Freunden oder bei der Arbeit. Ich bin mit manchen bei Facebook befreundet und mit manchen nicht. Ich habe mich verliebt und wurde enttäuscht, ich habe mich nicht verliebt und habe jemand anderen enttäuscht. Aber immer, ja wirklich immer wusste ich: Es geht hier um Liebe. Ums Mutigsein, um Begierde und das Suchen und Finden. Aber es geht nicht darum, WO ich jemanden kennengelernt habe.

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