Glaube, Liebe, Hamburg: Mein fremder Freund

Freundschaft ist die unantastbarste Institution unserer Zeit. Umso schiefer wird man angeschaut, wenn man einige seiner Freunde noch nie getroffen hat. Ein Plädoyer für mehr Nähe auf Distanz.

Nilz ist mein Freund. Sehr oft bringt er mich zum Lachen. Manchmal auch nur zum sogenannten Schmunzeln (ekelhaftes Wort). Ich denke dann: Ach, der Nilzi! So nenne ich ihn neuerdings und ich mag, dass er mich daraufhin nicht Leni sondern Lenai getauft hat. Konsequenter Typ. Wenn er Geburtstag hat, sage ich Nilz, wie viel mir das bedeutet: Dass er da ist, all den tollen Kram macht, diese schöne Haltung zur Welt hat: Tendenziell umarmend, unironisch liebevoll. Und dabei nicht verkniffen. Ich bin ziemlich stolz, dass er mein Freund ist.

Nicht mehr als 90 Minuten Bahnfahrt sind es, die uns trennen. Nilz lebt in Berlin, ich in Hamburg. Wir könnten mal was trinken gehen, wenn ich in der großen Stadt bin. Oder uns an die Elbe setzen, wenn er Freunde in Hamburg besucht. Aber Nilz und ich haben uns noch nie getroffen. Es gab Momente, da wussten wir, dass wir gerade in derselben Stadt sind, vielleicht sogar im gleichen Viertel. Nie wäre einer von uns auf die Idee gekommen, dem anderen zu schreiben: Hey, komm doch noch vorbei. Ist nicht unser Ding. Wir sind Freunde und wir sind uns trotzdem fremd. Das möchte ich verteidigen.

Alle Welt spricht dauernd über verschiedene Liebeskonzepte, über monogame, polygame, gefühlsarme Beziehungen, über Affären und One-Night-Stands, über Friends with Benefits oder wie diese ganzen Konstellationen heißen, in denen es eher ums Kommen als ums Commitment geht. Findet man alles super. Soll jeder so machen, wie er will. Aber sobald es um Freundschaften geht, wird die Sache heikel. Freundschaft ist die unantastbarste Institution unserer Zeit. Es gibt eine sehr klare Idee davon, wie sie auszusehen hat. Wenn Soziologen feststellen, dass die Liebe zur großen Religion unserer Zeit geworden ist und deshalb unrealistischen Maßstäben unterworfen wird (was sie im Keim killt), haben sie die Freundschaft unterschätzt. Die wird ganz selbstverständlich aufgeladen mit immensen Erwartungen. Während das Ewigkeitsversprechen in der Liebe Hysterie auslöst, wird es in der Freundschaft nicht hinterfragt. Es ist völlig klar, dass Freundschaften jede Halbwertszeit überdauern. Von: Haustieren, Selbstfindungsphasen, Familienverhältnissen, Jobs. Die Beziehungen überdauern sie sowieso. Dir kann und wird passieren, was will, with a little help from your friends schaffst du alles. Der Freund ist dir dabei nie zu nah. Er darf dich 20 Mal am Tag anrufen, auf deiner Couch einschlafen, er darf dich bitten, im Urlaub seine Tiere zu versorgen, und am ersten Weihnachtstag sitzt du traditionell bei seinen Eltern unterm Baum.

Freundschaften, die diese Nähe nicht haben, wird mit größtem Argwohn begegnet. Ich verstehe das nicht. Ich mag das klassische Kumpel-Konzept, das auf funktionslosem Abhängen beruht, ja auch. Weil es toll ist, einfach nur miteinander zu sein. Ohne Ziel, ohne Überschrift und Anrede. Einfach sitzen, faseln, irgendwann schwankend die Bar verlassen. Oder Tee trinken vorm Kamin und im Rausgehen Kullis klauen. Aber das, was ich mit Nilz habe, und was ich mit sehr vielen anderen Menschen in meinem Facebook-Posteingang auch habe, ist nicht weniger wert. Wir schreiben uns, teilen Videos und Bilder, verschicken Artikel und Ideen. Wir haben seit zwei Jahren einen Blog zusammen. Wir vermitteln uns gegenseitig Jobs. Wir kündigen diese Jobs, wenn sie dort einen von uns scheiße behandeln. Und manchmal, wenn ich spät abends einen alten Lovesong gepostet habe, schrieb Nilz, er nehme stark an, dass ich ein Bein hinter mir herziehe oder schlimm stinke, weil es sonst unerklärlich sei, dass ich gerade Zeit habe, melancholisch zu sein. Solche Nachrichten können Nächte retten.

Lasst uns doch sagen, wie es ist: Freundschaft ist genauso egoistisch wie Liebe und Familie. Wir brauchen sie, um uns unseres Wertes zu vergewissern. Weil wir uns als Komplizen besser gegen die Welt behaupten können. Dabei ist es total irrelevant, auf welche Weise wir diese Nähe erzeugen, wie genau das aussieht, wenn wir miteinander sind. Es geht am Ende immer um die Momente, in denen man sich gegenseitig etwas bedeutet, in denen sich zwei Leben überschneiden. Für eine durchtanzte Nacht, ein Kaffeetrinken, einen Gag oder eine Facebook-Nachricht.

Neulich schrieb mir Nilz, dass die Welt, wenn wir uns irgendwann einmal träfen, gewiss im besten Feuerwerk aller Zeiten versinken würde. Er war gerade ein bisschen geburtstagshigh, wie man das immer ist, wenn man an einem Tag im Jahr, digital und analog, von allen Seiten mit Liebe überschüttet wird. Ich habe sehr gelacht und mich sehr gefreut. Ich finde das eine tolle Vorstellung. Und ich finde, es muss nie dazu kommen.

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