Zardoz und die Gentrifizierung – wie ein Stück Hamburger Musikkultur vertrieben wird

Gentrification, das ist doch wirklich mal schön zu hören, dient nicht allein der Verwandlung lebenslustiger Mikrokosmen in mausetote Investorenghettos ohne Menschen, aber mit toller Profitrate; wer sich aus gegebenem Anlass intensiver mit einem dieser Aufwertungsgebiete befasst, kann sogar etwas verschlafene Schulbildung nachholen. Polyvinylchlorid, lernt man dann zum Beispiel, ist ein makromolekularer Kunststoff, dessen langkettige Polymerstruktur der Produktion nützlicher Sachen wie Kabelummantelungen, Wasserbettbespannungen, Fußbodengrundbeläge und dazu noch einer dient, die zwar fünf Silben weniger hat, aber ein Vielfaches an Emotionen mehr: Vinyl.

15 Jahre Vinyl

Zu Abertausenden steht dieser Basisstoff akustischer Reizbefriedigung in eng bestückten Schubfächern am Schulterblatt. Da, wo das historische Montblanc-Kontor die Straße zum Neuen Pferdemarkt hin nochmals verengt, werden seit 2003 Langspielplatten verkauft. Von Motown-Funk bis japanischer Freejazz, vom Acetatunikat bis zur Schlagersingle gibt es im Erdgeschoss – nein, nicht alles, aber eine Riesenmenge dessen, was Nostalgiker, Nerds, Neo-audiophile und Normalhörende auf LP, CD, DVD im Zardoz suchen und finden. Fast 15 Jahre lang war dieses Hospiz eines Todgesagten nicht totzukriegen. Bis jetzt.

Denn nun ist auch dieses angenehm chaotische, sorgsam geführte, schlicht hinreißende Plattengeschäft vom Vertreibungswahn betroffen. Schon vorigen Herbst, sagt Filialleiter André Sorgenfrei, hätte man ihm die Kündigung vorgelegt. Ohne Angabe von Gründen, ohne Gelegenheit zum Einwand. Nicht mal die ortsübliche Mietvervierfachung wurde ihm angeboten. Auszug im Sommer, fertig.

Das ist selbst im grassierenden Verdrängungswettbewerb internationaler Immobilienspekulation, der nun auch dieses Baudenkmal der Zwischenkriegszeit zum Opfer fällt, durchaus bemerkenswert. Und bietet entsprechend Anlass, den permanent erhöhten Empörungsmodus um weitere zwei Stufen auf Anschlag zu drehen. Wenn es denn so einfach wäre.

Viertel & Vertreibung

Schließlich ist das Zardoz nach dem Namensvetter am Altonaer Bahnhof und dem Rockabilly-Refugium „Burnout-Records“ ums Eck nur der nächste Streichkandidat im Konzert der Schließungen – von Legenden wie einst „Tractor“ in der Eppendorfer Landstraße oder dem innerstädtischen „Membran“ ganz zu schweigen. Doch in den Premiumlagen angesagter Viertel mag die Vertreibung des inhabergeführten Einzelhandels zwar besonders sichtbar sein. Im Gegensatz zu Wohnraum oder Musikclubs unterliegt sie allerdings einer fatalen Wechselwirkung mit dem Konsumverhalten derer, die das Ende des Zardoz nun mitbeklagen. Weil es im stationären Plattenhandel nun mal keine Downloads am Tresen gibt, müssen sich alle daher kurz mal fragen, wie oft sie

• überhaupt noch physische Tonträger kaufen, falls nicht
• ob sie die beim Amazon bestellen oder noch schlimmer
• legal streamen, illegal rippen, häppchenweise entwerten

Würde das Gros der Kundschaft nicht längst Letzteres tun, befänden sich Plattenladen ja in der glücklichen Lage, in ihren Premiumlagen jene Premiumumsätze zu erzielen, die sie bis in die Neunzigerjahre hinein zu Tempeln soziokultureller Relevanz gemacht haben. Sie könnten sich mithin selbst groteske Mieten leisten, nur so eine These. Was zur zweiten führt: Trotz veränderter Konsumgewohnheiten gibt es fast nirgends so viele Plattenläden wie in Hamburg.

Die Dichte ist besonders im Karoviertel allenfalls noch mit der von New York oder London zu vergleichen, wo der Rough Trade Shop Kaufhausgröße erreicht und ganze Straßenzüge langkettige Polymerstrukturen ohne Fußboden- oder Wasserbettbezug verkaufen.

Mietwuchter & Gentrifidingsbums

Am bedeutsamen Independent-Standort Hamburg lebt die Todgesagte aus Vinyl eben am längsten. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass ihr Sterben für ungleich mehr Wut sorgt als dort, wo die Zerstörer jeder Subkultur von Apple über Spotify bis Amazon, Amazon und Amazon längst die Alleinherrschaft übers Hörverhalten übernommen haben. Diese Wut ist gut, sie ist unerlässlich. Vertreibung, Mietwuchter, Gentrifidingsbums müssen mindestens so innbrünstig bekämpft werden wie der vielbeklagte Dauerstau auf Hamburgs Straßen, der den Boulevard grad wieder zum Kochen bringt. Sie muss jedoch einher gehen mit intensiver Reflexion über unserem Umgang mit Kreativität, Kunst, Musik.

Fürs Zardoz ist das ohnehin zu spät. Ein kleinerer Laden ungleich des alten, beruhigen die Betreiber, sei in Aussicht. Aber nur bis zur nächsten Mieterhöhung. Falls sie überhaupt noch ausgesprochen wird. Die Zeiten werden härter. Härter. Und härter. Empört euch! Und kauft Schallplatten! Sonst ist bald halb Hamburg nur noch mikromolekularer Kunststoff.

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