Koks, Kotze, KFC: Begegnungen auf dem Hamburger Berg

In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Eingefangen an Orten, die wir zwar alle kennen, für die wir jedoch nicht den Mut, die Courage oder die Verzweiflung besitzen. "Absolute Giganten" ist der stille Beobachter, der die Geschichten der Stadt und ihrer Menschen findet und zu Papier bringt.

© Kevin Goonewardena

Wöchentlich grüßt das Murmeltier. Die Anreise auf den Kiez mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ein Ärgernis - nicht nur wegen des HVV.  Schon am frühen Abend sehen, wem man später bei Mäcces begegnet, auf dem Scheißhaus, im Rinnstein: Die Zugvögel aus der Peripherie; von Wedel bis Aumühle, aus Noderstedt und Buxtehude. Noch: Sauber, frisch und rein wie 'ne Illu mit Royals im Wartezimmer des Arztes.

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Später: Kleine Äuglein, speckige Haut, verlaufene Schminke, zerzauste Haare, schwarze Ringe. Frierende Körper in leichten Fetzen die mal sexy waren, jetzt aber scheiße-kalt sind, denn muss man mal wieder alleine nach Hause. Kein Schlaf bis Hammerbrooklyn! Jetzt: Grölen, telefonieren, den Bahnsteig aus dem Zug auschecken: Ist XY da? Stehen in Wilhelmsburg Kontros? Es trinken: Nur ich. Friesisch herb. Angekommen, ausgespuckt, aus dem Untergrund gespült. Die Rolltreppe an der S-Reeperbahn: Wie immer kaputt. Müll und Menschen aller Länder vereinigt euch. Noch hat die kotze keine Jacke verklebt.

„Als mein EX meine Tochter vergewaltige, fing das mit den Drogen an“

© Kevin Goonewardena

Reeperbahn / Hamburger Berg. Ich, stehend vor dem ‚Knallermann‘. Mein Presseausweis baumelt um den Hals, der Seriosität wegen. Hier: Eigentlich fehl am Platz. Sie: Liest meinen Namen „Go-Gu-Gune...“, beachtet den Ausweis nicht weiter. „Ja, komm, ist nicht so schwer, wie es aussieht,“ helfe ich ihr auf die Sprünge. Sie „Kommst du mit zum Auto, ich habe gerade Koks gekauft, muss Geld wechseln.“

Ihr CL parkt ein paar Schritte weiter vor dem ‚Pocca‘. Älteres Model, das Verdeck ist ein wenig demoliert – aber es ist ein CL. Sie kramt im Kofferraum, nestelt einen 500er aus ihrem BH. Als Hure würde sie arbeiten, habe sechs Bordelle gehabt, nun noch vier: „Cuxhavener Straße, Stader Straße“, beginnt sie aufzuzählen. „Du betreibst Bordelle und gehst trotzdem noch anschaffen?“ „Ich steh‘ auf Geld. Ich habe nichts, aber Geld“. „Und ein Tablet“, ergänze ich nach einem Blick in das Durcheinander des Kofferraums. Sie grinst. „Kennst du den?!“ Kaffeebraune, überdimensionale Brüste schieben sich in die Szenerie. Eine junge Frau mit Püppchengesicht, Kollegin, vielleicht sogar Freundin von ihr. Sie schaut mich irritiert an, drängt, muss sich nach Aufforderung aber auch erst einmal an meinem Namen versuchen. „Wir können im Casino wechseln.“

 

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Auf dem Weg dorthin probiert es ihre Freundin noch im Zum Goldenen Handschuh. Wir unterhalten wir uns weiter draußen. „Ich war immer gegen Drogen, bis ich meine Kinder verlor“, erzählt sie. „Da drüben“, sie deutet auf den Elbschlosskeller. In dem Laden?! Ich zögere ein bisschen, traue mich nicht zu fragen – ich kenne mittlerweile solche Leute. Alles ist möglich.

Nein, sie seien nicht tot, nur im Heim, führt sie aus. Der Elbschlosskeller, das Revier ihres Ex – wie ich heraushöre. „Als ich herausgefunden habe, dass mein Ex meine älteste Tochter vergewaltigte, über Jahre, fing das mit den Drogen an.“ Der Absturz begann, Stress und Hausverbot im Elbschlosskeller – Randepisoden in ihrer Geschichte.

Ihre Kollegin kommt wieder, mit ihr der Wirt aus dem Handschuh. „Geht doch ins Casino wechseln, du hast doch gesehen was drinnen los ist.“ Ihre Freundin drängt. „Er kann doch mitkommen.“ Sie kenne hier jeden, sagt die, mit dem CL. Wie zum Beweis grüßt sie einen vorbeikommenden Passanten, sie herzen sich, dann ziehen wir weiter. Als ich einen Obdachlosen fotografiere, der mir Sexspielzeug - noch originalverpackt - anbietet, verliere ich die beiden aus den Augen. Wenig später am Casino vorbeigehend, sehe ich beide an der Kasse stehen. Sie wechseln Geld.

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Der Honka Fritz

Im Goldenen Handschuh sitzen Nadia und Alex. Sie, Schneiderin bei König der Löwen, er, selbstständiger Fotograf aus Köln. Eigentlich beide: Aus Landau in der Pfalz. Best friends for life, wie sie sagen. Ich bitte sie zur Seite zu rücken, die Einwegkamera im Anschlag, die Wand hinter ihnen im Blick. Auf ihr zur Schau gestellt: Das Original Zum-Goldenen-Handschuh-Shirt, 18 Euro, ein Plakat, was auf den Heinz-Strunk-Bestseller gleichen Namens hinweist, der die Geschichte des Serienmörders nachzeichnet.

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Das Geschäft mit der Vergangenheit – auch hier so allgegenwärtig wie in der Ritze ein paar Blocks weiter. Touris und Trinkermilieu – traurige Wahrheiten allgegenwärtig. Sie knipsen uns und ich bleibe hängen. Sie füttern die Jukebox, wir trinken, wir unterhalten uns. Über AirB'n'B und Oreo-Eis, über die Mitfahrzentrale und darüber, dass alles, was mal cool war, irgendwann scheiße wird. Über Hamburg und St. Pauli im speziellen. Über die Arbeit, auch wenn ich nicht verstehe, was er genau macht. Aber von allen Gedanken schätze ich doch am meisten die interessanten.

„Bist du ein Bulle?“

© Kevin Goonewardena

Blau in blau, Adidas, blue jeans, Nike. Ich lehne vor dem Elbschlosskeller, er kommt auf mich zu nachdem er einen aus dem danebenliegenden Sexkino kommenden Mann erfolglos ansprach. Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel. Ich weiß er wird mich gleich anhauen. Und ich weiß, was er will. Dabei kennen wir uns nicht. Und er ist auch kein People of Colour – bevor hier einer schreit: War doch klar, was er will.

Der Presseausweis ist eingesteckt. Was machst du hier, bist du öfter hier, woher kommst du. Komm schon, bitte, bitte sag's mir doch. Smalltalk in seiner reinsten Form. Dann kommt er zur Sache - wir reden über Koks. Vorsichtig fühlt er vor, erfolglos. Wer Koks auf dem Berg kauft ist doof. Er bohrt nicht weiter, denn er weiß: Zeitverschwendung. Ich zeige ihm meine Einwegkamera, denn ich brauche ein Foto. Erzähle ihm davon, dass ich einfach nur für mich fotografieren würde. „Fassaden, Schildermasten mit Aufklebern, interessante Leute.“ Heißt übersetzt: Fertige Leute.

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Wie die Obdachlose auf der anderen Straßenseite, die vor dem KFC auf dem Boden liegt. Gar nicht so einfach, im Clochard wurden mir deswegen mal mehrfach Schläge angedroht. "Den Kiez halt", schiebe ich kühl nach. "Was machst du mit den Fotos?", fragt er. "Nichts, die sind einfach nur für mich." Seine Beine, seine Schuhe, die könnte ich fotografieren, kommt mir eine Idee - sein Gesicht, keinen Versuch wert. Er tritt einen Schritt zurück, hebt die Hände, lacht, weist mich entschieden von sich. "Bist du ein Bulle?" Einer wie er muss das fragen. "Das glaubst du doch selbst nicht", lache ich. "Willst du 'nen Bier?" Er will.

Ich wage einen neuen Vorstoß "Schau mal, wie klein der Bildausschnitt ist - wenn ich hier unten deine Schuhe fotografiere, ist dein Gesicht gar nicht drauf", ich gehe in die Hocke, fuchtel mit der Kamera herum. "Warum meine Schuhe?" Ja, warum eigentlich seine Schuhe?! Weil ich einen Artikel über unsere Begegnung schreiben werde und diese bebildern will, was sonst ?! "Ist doch 'nen gutes Motiv", lüge ich. Nicht schön, nicht hässlich, erst recht nicht auffallend - also kein gutes Motiv. "Gib mir eine Minute".

 

© Kevin Goonewardena

Er rennt wie von der Tarantel gestochen los. Über die Straße, am KFC vorbei. Kommt kurz darauf wieder. "Haste wen gesehen?" "Ja". Ich hole Bier, wir stoßen an. Neben ihm jetzt: Zwei denen ins Gesicht geschrieben steht: Ja, wir wollen. Er müsse eben kurz weg mit den beiden. Sie gehen. Ich bleibe noch einen Augenblick stehen, dann ziehe ich auch weiter. Sein Bier wird schal.

Du glaubst mir nicht? Geh einfach mal auf den Berg und lehn‘ dich an ‘ne Wand.

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