Glaube, Liebe, Hamburg: Rumhängen ohne schlechtes Gewissen

© Lina Hansen

Segel Setzen #4

Wann hat es eigentlich angefangen, dass wir an jedem verdammten Abend der Woche irgendwas vorhaben müssen? Und was soll das eigentlich, dass Rumhäng-Zeit zuhause zu einem schlechten Gewissen par excellence führt? Ich finde: Uncool sein und alleine chillen ist die beste Sache der Welt.

Ich liebe es, viel zu tun zu haben. Hier die Freundin auf ein Bier treffen, die ich ewig nicht gesehen habe, dort zum Kochen verabredet sein. Menschen treffen, um neue Projekte zu besprechen. Laufen gehen. Ein Theaterstück angucken.

Wir alle sind super busy, klar. Unter der Woche sind es die Arbeit und die Uni, am Wochenende wollen das neue Café im Karoviertel, der x-te Streetfood Market, den man nicht mehr vom nächsten unterscheiden kann oder die kleine Eckkneipe in Barmbek ausprobiert werden. Wir haben alle ein erfülltes Sozialleben – oh ja!

So erfüllt, dass wir auch unter der Woche kaum unsere Wohnung sehen, sondern zum After Work gehen und uns auf dieser Shop-Eröffnung blicken lassen. Und ach ja – die Podiumsdiskussion in der Uni zu diesem spannenden aktuellen Thema lassen wir uns natürlich auch nicht entgehen.

Diese ganzen kulturell und sozial höchst wichtigen Veranstaltungen zu koordinieren ist mittlerweile eine Kunstform geworden, schließlich müssen nicht nur die Termine ausgemacht, sondern auch das Zusammentreffen der unterschiedlichen Menschen wohlüberlegt sein. Wenn ich mit X da hingehe, dann wäre es besser, Y zu fragen, ob er Montag kann und ach, verdammt, Z hatte ja auch noch gefragt.

Tolle Sachen sind das. Das Jonglieren der verschiedenen sozialen Verpflichtungen funktioniert aber nur so lange, bis eine Sache davon herunterfällt. Der eine Ball, der schon irgendwie ne Macke hatte, schlingert irgendwie so komisch und bricht aus der Bahn aus. Wir werden krank, wir stehen kurz vor einer Trennung, wir leiden unter akuter Quarter-Life Crisis. Was passiert? Wir können plötzlich nicht mehr umdisponieren. Auch unser Körper teilt uns irgendwann mit, dass jetzt auch mal Schluss ist. Wir bleiben zuhause. Oh Schreck! Was jetzt?

©Lina Hansen

Dann schauen wir Unbreakable Kimmy Schmidt in Kombi mit Unmengen an Froot Loops, so als gäbe es kein Morgen mehr. Plötzlich ist es halb vier Uhr nachts und die Zeit ist irgendwie verflogen.

In einer Großstadt mit unendlichen Möglichkeiten der Abendgestaltung fällt es oft schwer, sich selbst das Recht zuzugestehen, einfach mal im Bett zu bleiben – auch wenn man nicht krank ist. Es ist irgendwie seltsam – wann ist es dazu gekommen, dass wir es nicht mehr normal finden, an Wochentagen (von Freitagen und Samstagen ganz zu schweigen) keine Pläne zu haben?

© Dimitri Fokeev

Kein Kinobesuch, kein entspannter Abend mit Freunden, kein Mensch zu Besuch. Sondern einfach nur ich, wie ich mir Abendbrot (mit Käsebrot und Gürkchen natürlich) mache, dabei House of Cards gucke und dann irgendwann mit Tee ins Bett umziehe, zwischendurch höchstens mit einer Freundin telefoniere oder das Nötigste aufräume. Wenn ich von anderen höre, dass sie so einen Abend vor sich haben oder sogar die meisten Abende unter der Woche so verbringen, finde ich das beneidenswert und wünsche mir, dass ich mir solche Abende auch öfter mal zugestehen würde.

Ich fühle mich aber schlecht dabei. Gerade so, als würde ich mein Leben verschwenden. Das ist total bescheuert, nicht? Woher soll ich die Energie für alle die großartigen Vorhaben nehmen, wenn nicht aus ruhigen Zeiten zuhause? Dazu kommt, dass ich Zeit alleine – und zwar komplett alleine – so sehr brauche wie Luft zum Atmen.

Bin ich 24/7 von Menschen umgeben, kann ich nicht kreativ sein. Die Inspiration, die von der Außenwelt kommt, will ja auch irgendwie sortiert und verstaut, um dann zur richtigen Zeit hervorgeholt und genutzt zu werden. Der Platz im Kopf ist begrenzt und so schön es auch ist, sich von Event zu Verabredung zum Grillen im Stadtpark zu hangeln, so wichtig ist es auch, diese Zeiten in Ruhe verarbeiten zu können und den Kopf ein bisschen aufzuräumen.

Nach einem solchen Abend bruncht, feiert oder biertrinkt es sich doch viel besser
Lina Hansen

Sonntage zu zweit oder alleine im Bett verbringen. Sich vom Bett irgendwann zum Sofa zu hangeln und die alten Serien von früher bingewatchen (Bin ich die einzige, die regelmäßige „Sabrina – total verhext!“-Revivals feiert?). Mal aushalten, dass „alle anderen“ auf der einen Party sind. Und es okay finden, dass Abende alleine sogar mal langweilig sein können. Denn nach einem solchen Abend bruncht, feiert oder biertrinkt es sich doch viel besser. Außerdem hat man damit immer eine krasse Story zum Erzählen: „Ey, ich war gestern Abend zuhause und habe den Abfluss gereinigt“ – „Eeeecht? Boah, mach kein Scheiß!“.

Lina ist geboren und aufgewachsen in Hamburg und hat auf keiner ihrer Reisen jemals eine Stadt gesehen, die sie so gefangen nimmt. In ihrer Kolumne „Segel setzen“ schreibt sie regelmäßig über die großen und kleinen Themen des Alltags einer Mittezwanzigjährigen – und natürlich über die Liebe zur Herzensstadt.

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