Clubs von gestern: Molotow (1990 – 2013)

St. Pauli erwacht erst nach Sonnenuntergang so richtig zum Leben. Dann kommen sie alle: Konzert-, Theater und Kneipengänger, Frauen, Männer, Alte, Junge, die Kaputten und die Taufrischen. In Rekordnächten sind es bis zu 100.000 Besucher. Sie alle lockt das Versprechen einer wilden Nacht. Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Dichte an Bars, Clubs und Etablissements so hoch wie auf dem Kiez rund um Reeperbahn, Hans-Albers-Platz und Große Freiheit.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts entsteht auf St. Pauli ein riesiges Vergnügungsviertel.

Angefangen hat alles genau da, wo später das Molotow eröffnet – auf dem Spielbudenplatz. Schon 1795 siedeln sich hier Künstler und Gaukler in hölzernen Buden an. Später entstehen feste Bauten mit prunkvollen Fassaden. Sie werden Heimat für zahlreiche Lokale, Kneipen und Theater. Ab 1816 laufen die ersten Dampfschiffe den Hamburger Hafen an. Davon profitierten nicht nur die Schankwirtschaften, sondern auch die umliegenden Bordelle. Zum Ende des 19. Jahrhunderts entsteht so ein riesiges Vergnügungsviertel.

Spielbudenplatz um 1920 (St. Pauli Archiv)
Spielbudenplatz um 1920 (Quelle: St. Pauli Archiv)
Spielbudenplatz um 1930 mit Kaffee Rheinterrassen (St. Pauli Archiv)
Spielbudenplatz um 1930 mit "Kaffee Rheinterrassen" (Quelle: St. Pauli Archiv)
Die beiden Weltkriege legen das Viertel lahm.

Die beiden Weltkriege legen das Viertel lahm. Doch schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erholt sich St. Pauli schnell. Die Bevölkerung sehnt sich nach Ablenkung, will wieder ausgehen. Die Bombardierungen aber haben Spuren hinterlassen. Viele Bauten sind zerstört. Vor allem den östlichen Teil des Spielbudenplatzes trifft es hart. Zu den Lücken, die lange ungeschlossen bleiben, gehört auch das Grundstück an der Ecke Taubenstraße. Zwischen 1960 und 1961 werden dort die sogenannten Esso-Häuser gebaut – bestehend aus zwei Wohnhausblöcken und einer Tankstelle. Die Gebäude verbindet ein Gewerberiegel zum Spielbudenplatz. Dort ziehen Bierhäuser, Hotels und Sex-Shops ein und geben dem Spielbudenplatz seine ursprüngliche Bedeutung zurück. Etwa zur gleichen Zeit kommt auch der Rock ’n’ Roll nach St. Pauli. Die Beatles spielen ihre erste Hamburger Show 1960 im Indra. Zwei Jahre später eröffnet an der Großen Freiheit der Star-Club und macht St. Pauli zu einer internationalen Adresse für Live-Musik.

Spielbudenplatz 20. Dezember 1966 (St. Pauli Archiv)
Spielbudenplatz 20. Dezember 1966 (Quelle: St. Pauli Archiv)
Du kriegst irgendwo K.o.-Tropfen ins Glas, und zwei Tage später wachst du im Rinnstein auf und hast nur noch die Unterhose an.

Doch schon bald folgt das nächste Tief. In der Silvesternacht 1969 schließt der Star-Club für immer seine Pforten. Ab Mitte der 1970er Jahre geht es auch in anderen Bereichen in St. Pauli spürbar bergab: Große Unternehmen verlassen das Viertel, der Hafen verliert seine Bedeutung. Überall gibt es Leerstand und marode Häuser. Blutige Zuhälterkriege sowie Angst vor Aids und Nepp durch unseriöse Wirte tragen zur Krise bei. „Meine damalige Vorstellung vom Auf-den-Kiez-Gehen war: Du kriegst irgendwo K.o.-Tropfen ins Glas, und zwei Tage später wachst du im Rinnstein auf und hast nur noch die Unterhose an“, sagt Musiker und Autor Detlef Diederichsen. Es gibt regelrechte Ausgehwarnungen. „St. Pauli gehört nicht zu den Attraktionen der Stadt. Wir Hamburger gehen da nicht hin“, sagt Helmut Schmidt 1986. Die Hamburger Jugend vergnügt sich zu dieser Zeit lieber in Eppendorf und Pöseldorf.

Der ideale Nährboden für subkulturelle Bewegungen.

Das marode Viertel mit seinen vielen Freiräumen ist der ideale Nährboden für subkulturelle Bewegungen. Die günstigen Mieten locken Studenten und Künstler nach St. Pauli. Der wichtigste Impuls kommt aus der Hafenstraße. Im Oktober 1981 ziehen dort die ersten Besetzer in leerstehende Häuser, die eigentlich abgerissen werden sollen. Die öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei verändern das Bewusstsein in St. Pauli nachhaltig. Es entsteht ein kollektiver Geist, ein Wir-Gefühl, eine Aufbruchstimmung. Die „Bürgerschrecks vom Hafenrand“ (Abendblatt 1992) und ihre Sympathisanten erobern den Stadtteil. Sie entdecken auch den FC St. Pauli für sich und tragen den neuen Geist samt Totenkopf-Fahnen ins Stadion. Auch die Besetzung der Roten Flora 1989 im benachbarten Schanzenviertel trägt zum Bild des alternativen St. Pauli bei.

St. Pauli wird zum Ort mit den 1000 Läden, Schuppen und Kaschemmen.

Es dauert nicht lange, bis die neuen Bewohner auch das Nachtleben neu entfachen. Kneipen können zu Niedrigpreisen übernommen werden. Viele versuchen ihr Glück. St. Pauli wird so zum Ort mit den 1000 „Läden, Schuppen, Kaschemmen“. Auch die Club-Kultur bekommt frischen Wind. Mit den Eröffnungen von Pudel, Sparr, Mitternacht und After Shave wird St. Pauli wieder zum Ausgehviertel der Stadt. Und auch Live-Musik wird endlich wieder geboten. 1985 eröffnet die Große Freiheit 36. 1988 nimmt das Docks den Betrieb auf. Diese Läden holen namhafte Bands nach St. Pauli. Einen Club mit Fokus auf Nachwuchsbands aus dem Indie-Bereich aber gibt es da noch nicht. Das ändert sich am 3. Juni 1990.

Beim ersten Konzert waren gerade einmal zwölf zahlende Gäste anwesend.

An dem Tag eröffnet das Molotow im Keller des Spielbudenplatzes 5. Zuvor war hier die Diskothek Blackout zu Hause, später dann ein spanisches Flamenco-Café. Beim ersten Konzert (Teenage Fanclub, 04.06.1990) waren gerade einmal zwölf zahlende Gäste anwesend. Aber es war ein historischer Abend. Es war der Startschuss eines der wichtigsten Live-Clubs in Europa. Später gehört auch die Meanie Bar im Erdgeschoss des Gebäudes zum Molotow. Die ehemalige Schwulenkneipe ist jetzt eine kleine Raucherkneipe mit Sofas und wird auch Konzerte veranstalten. Bis zur Schließung des Clubs am 14.12.2013 finden im Molotow am Spielbudenplatz mehr als 5000 Konzerte statt. Hier werden Karrieren geboren und begraben, Bands gegründet, Projekte entwickelt, Sternstunden und Abstürze zelebriert. Der kleine Raum mit den tiefen Decken, die niedrige Bühne ohne Absperrung zum Publikum, der klare Sound und die drückende Hitze – eine Show im Molotow ist an Intensität nicht zu überbieten.

25 Jahre nach der Eröffnung ist das Molotow eine Legende.

25 Jahre nach der Eröffnung ist das Molotow eine Legende. In den Leser-Polls berühmter Musikmagazine landet der Club regelmäßig in den Top 10, im „Musikexpress“ 2009 und 2015 sogar auf Platz 1. Beim Hamburger Club Award 2013 wurde das Molotow zum besten Club der Stadt gekürt. Der Abriss der Esso-Häuser 2014 und der Umzug ins Molotow Exil – zunächst an die Holstenstraße, dann in die ehemalige China Lounge am anderen Ende der Reeperbahn – waren eine enorme Herausforderung für die Betreiber. Dank eines großen Durchhaltevermögens, kreativer Ideen und einer breiten Solidarität von Stammgästen und Sympathisanten konnte das Molotow auch diese Krise überstehen. Dadurch ist der Club längst auch zu einem Sinn- und Vorbild für den Kampf gegen Verdrängung und Aufwertungsprozesse in St. Pauli geworden. Das Molotow mit seiner zähen Widerborstigkeit, seinen bunten Ideen und seinem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Musik ist für das von Tourismus- und Investoreninteressen so arg strapazierte St. Pauli heute so wertvoll wie noch nie.

Der Club mag den Standort gewechselt haben, aber er ist und bleibt das Hamburger Zuhause für echten Rock ’n’ Roll.


 

Unser Text stammt von Sebastian Meissner und ist seinem Buch "Molotow - das Buch" entnommen, welches just im Hamburger Junius Verlag erschienen ist und mit mehr als 300 Fotos, zahlreichen Erfahrungsberichten von nationalen und internationalen Musikern sowie vielen Hintergrundinformationen auf 25 Jahre Molotow zurückblickt.

Zurück zur Startseite