Der Pfau – Isabel Bogdan

Den ganzen Dezember über versorgen wir dich mit Geschichten in Kooperation mit 54Stories zusammen. Heute: Ein Auszug aus dem neuen Roman "Der Pfau" der Hamburger Autorin Isabel Bogdan. 

Aileen machte Überstunden. Aileen war die Haushaltshilfe und Putzfrau für das Herrenhaus und die Cottages, sie machte die Wäsche der Familie und der Ferienhäuser, stellte Tee und Kekse bereit, wenn neue Gäste kamen, und hatte ziemlich genaue Vorstellungen davon, was nötig war, was gemacht werden musste und was vollkommen überflüssig war. Aileen hielt, kurz gesagt, den Laden am Laufen. Sie würde eines Tages eine hervorragende  Hausfrau  werden,  aber  nach  ein paar kürzeren  Katastrophenbeziehungen war sie erst  mal froh, allein zu sein. Zum Kinderkriegen hatte sie noch genügend  Zeit,  sie  machte  sich  keine  Sorgen  darum, den richtigen Mann für die Gründung einer eigenen Familie noch zu finden. Es reichte ja, wenn er friedlich war, nicht zu viel trank und Arbeit hatte, ihre Ansprüche waren nicht allzu hoch. Sie selbst würde natürlich ebenfalls weiter arbeiten, es machte ihr Spaß, Herrin über mehrere Cottages samt Ausstattung zu sein. Aileen teilte Hamish mit, ein neuer Durchlauferhitzer für das Bad im Westflügel sei unerlässlich, die lauwarme  alte Tröpfeldusche könne man Feriengästen wirklich nicht mehr zumuten, schon gar nicht so wichtigen. Hamish tat im Allgemeinen, was Aileen ihm sagte, denn Aileen war eindeutig praktischer veranlagt als er, und so ließ er einen neuen Durchlauferhitzer installieren. Einen, der in unbegrenzten Mengen richtig heißes Wasser produzierte. Am Wasserdruck ließ sich leider nicht viel ändern, mehr Druck kam nun mal nicht aus den alten Leitungen. Aber eine heiße Tröpfeldusche war immerhin besser als eine lauwarme.

Im Westflügel hatte sich im Laufe der Zeit einiges an Gerümpel angesammelt – der Flügel war recht groß und wurde nur selten vermietet, und so  hatten  die McIntoshs dort alles Mögliche untergestellt, von dem sie nicht gleich entscheiden konnten, wohin es sollte. Kisten mit Büchern und den ausrangierten Spielsachen der inzwischen erwachsenen Kinder, ein paar ausgediente Möbel, die entweder zu schade zum Wegwerfen oder nur noch nicht entsorgt worden waren, Geschirr, Blumentöpfe, Weihnachtsdeko, abgetretene Teppiche, Geweihe, Gemälde und was sich sonst so in alten Häusern findet, die von Generation zu Generation weitervererbt  werden  und aus denen nie jemand auszieht. Aileen sortierte ein bisschen was durch, brachte das ein oder andere kaputte Kleinmöbel zum Müll und stellte alles andere vorerst in die Garage. Dort stand es immerhin trocken  und  war  nicht  im Weg,  und  das Tor konnte  man  einfach  zumachen.  Was  das  eigentliche roblem  natürlich  nicht  löste, sondern nur räumlich verlagerte. Einige der alten Sachen sollten zum Charity Shop gebracht werden, und Aileen wusste genau, dass jedes erneute Sortieren und Umräumen den Lord dazu bringen würde, sich von weiteren Dingen zu trennen. Insofern war die Aktion immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Und vor allem war der Westflügel wieder vermietbar.

Aileen nahm die langen dunkelroten Samtvorhänge ab  und  fuhr  sie  in  die  Reinigung,  weil  sie  in  keine Waschmaschine passten. Sie schäumte die Teppichböden im gesamten Westflügel ein, putzte die Fenster und kontrollierte alle Kommodenschubladen und Schrankfächer, ob kein Gast dort etwas vergessen hatte oder womöglich ein Falter darin gestorben war. Sie putzte sogar die Glasscheiben der Bilderrahmen mit den alten Stichen. Teilweise hatten sich zwischen Bild und Glasscheibe Kolonien winziger Insekten angesiedelt, ganz besonders schlimm war es in dem Stich The weighing of the birds. Sie nahm ihn ab und brachte ihn in ihren Hauswirtschaftsraum, um ihn später in Ruhe zu reinigen. Es hatte doch auch sein Gutes, dachte sie, dass diese wichtigen Leute kamen, da machte sie endlich mal so gründlich sauber, wie sie es schon längst hatte tun wollen. Eigentlich hätte sie alle Bilder abhängen, aus den Rahmen nehmen und von Insekten befreien sollen, aber so viel Zeit hatte sie nicht. Wenigstens das am schlimmsten befallene Bild sollte in Ordnung sein, zumal es an prominenter Stelle direkt neben dem Eingang hing. Was waren das überhaupt für Tiere, die da in den Bilderrahmen wohnten, fragte sie sich, wovon lebten sie? Von so verschwindend kleinen Papierstückchen, dass man es dem Papier nicht mal ansah? Von Staub? Es waren nur winzige Flecken zu sehen, die vermutlich von den Ausscheidungen der Tiere kamen. Und woher kamen die Viecher überhaupt, wie kamen sie in die Bilderrahmen? Aileen entfernte die winzigen Tierchen mit einem Pinsel. Auf dem Stich war eine Jagdgesellschaft zu sehen, die auf einer großen Waage die erjagten Fasane und Moorhühner wog.

Zwei Tage bevor die Banker kommen sollten, hing das Bild wieder an seinem Platz. Die Glasscheibe war deutlich sauberer als die der anderen Bilder, sodass deren Verschmutztheit nun umso mehr auffiel, aber Aileen konnte jetzt nicht noch alle anderen Bilder aus den Rahmen nehmen und die Scheiben von innen putzen. Einfach sämtliche Bilder abzunehmen, kam ebenfalls nicht infrage, weil auf den Tapeten dahinter große, helle Flecken waren.

Aileen bezog die Betten frisch, legte ausreichend Handtücher bereit, und als sie ganz zum Schluss noch versuchte, den Staub aus einem alten Trockenblumenstrauß zu pusten und zu schütteln, zerfiel der komplett. Die trockenen Blütenblätter rieselten auf den Boden, und Aileen musste Henry noch einmal holen. Henry war der  Staubsauger, ein kleines rotes, rundes Gerät mit aufgemaltem lachendem Gesicht. Den Schlauch steckte man Henry als Nase an, wie einen Rüssel. In sämtlichen Cottages befanden sich ebenfalls Henrys, Aileen freute sich immer wieder neu an dem freundlichen  Staubsauger. Überhaupt war sie eine Frohnatur und meistens gut gelaunt. An diesem Tag war sie besonders gut aufgelegt, sie hatte sich ein Radio mit in den Westflügel genommen, sang lautstark mit und legte mit Henry zu Dancing Queen eine flotte Sohle auf den Teppichboden. You can dance, you can jive, having the time of your …, und dann bekam sie einen fürchterlichen Schreck, weil plötzlich die Lady mit verschränkten Armen in der Tür stand und ihr amüsiert zusah. Aileen schaltete Henry und das Radio aus und stammelte, jetzt sei sie aber erschrocken und wie lange die Lady  denn schon dort stehe. Die Lady grinste, machte Och und sagte, der Fahrer von der Wäscherei sei da gewesen und habe die Vorhänge gebracht, ob sie ihr wohl eben tragen helfen könne.

Die beiden Frauen schleppten meterweise dicken Samt in den Westflügel und hängten die Vorhänge auf. Aileen stand oben auf der Trittleiter, die Lady reichte ihr die schweren Vorhänge an, beide waren erfreut und ein bisschen beschämt, wie prächtig sie jetzt wieder aussahen und wie nötig es offenbar gewesen war.

Vor dem Haus hupte der Postbote. Die Lady ging hin, und Aileen schaltete das Radio wieder an. Es konnte dauern, bis die Lady wiederkam, aber allein konnte sie den nächsten Vorhang nicht aufhängen, dafür war er zu schwer. Sie inspizierte noch einmal schnell das Bad, ob dort noch etwas zu tun wäre, und probierte die neue Dusche aus. Dabei sang sie etwas weniger lautstark mit, denn sie fürchtete, die Lady womöglich wieder zu überhören.  Das Wasser war jetzt zwar schön warm, tröpfelte aber ebenso kraftlos aus dem Duschkopf wie eh und je. Nun ja, beschloss sie, das sollte nicht ihr  Problem sein. Wenn die Banker damit nicht zurechtkamen, hatten sie Pech gehabt. Vielleicht tat etwas weniger Luxus ihnen ja sogar mal ganz gut. Aileen hatte keine besonders hohe Meinung von Bankern.

Als Nächstes wären die Vorhänge im Wohnzimmer dran, Aileen brachte schon mal die Trittleiter dorthin, da lief im Radio Come On Eileen. Ihr Lied! Aileen sang jetzt doch wieder aus vollem Halse mit, nahm diesmal die  Leiter als Tanzpartner und wirbelte mit ihr ins Wohnzimmer, wo ihr letzter Tanzpartner, Henry, dummerweise eine Fußangel ausgelegt hatte. Vielleicht war er eifersüchtig. Ein Bein der Trittleiter verfing sich im Staubsaugerschlauch, Aileen stolperte und fiel mitsamt der Trittleiter über Henry. Sie hörte es in ihrem rechten Arm krachen, der Schmerz war überwältigend. Ganz benommen blieb sie liegen, bis die Lady wiederkam, sie aus dem Gewirr des grinsenden Henry, seinem Kabel, dem Schlauch und der Trittleiter befreite, das – wie Aileen es ausdrückte – gottverdammte Scheißradio ausmachte und den Krankenwagen rief. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu erkennen, dass Aileens Arm gebrochen war.

Bis der Krankenwagen die fünfzehn Meilen vom Krankenhaus ins Tal gefahren war, verging eine Weile. Aileen hatte es mithilfe der Lady in einen Sessel geschafft, ihr Arm ruhte auf einem Kissen auf der Armlehne und schmerzte so sehr, dass es ihr immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Die Lady verabreichte ihr ein Schmerzmittel. Sie bot ihr dazu auch einen Whisky an, aber den wollte Aileen nicht, sie trank nicht, nie, und das wusste Fiona McIntosh auch. Womöglich  musste sie auch operiert werden, und da war es sicher ohnehin keine gute Idee, betrunken im Krankenhaus anzukommen. Die Lady versprach ihr, sich um ihre Hündin Britney zu kümmern, bis Aileen aus dem Krankenhaus kam. Und ja, sie würde auch in ihrem Häuschen ein paar Meilen weiter oben im Tal nach dem Rechten sehen, die Blumen gießen und die Post sichten. Aileens Eltern waren vor einigen Jahren in die Stadt gezogen, nachdem man ihrem Vater wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer den Führerschein abgenommen hatte. In der  Stadt konnte er sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen und musste sich nicht permanent von seiner Frau chauffieren lassen. Seitdem lebte Aileen allein in ihrem Elternhaus. Sie hatte damals in einem Restaurant auf halber Strecke zum nächsten Dorf gearbeitet und keinen Grund gesehen, mit ihren Eltern  wegzuziehen. Im Gegenteil, sie war ganz froh und ohnehin alt genug, um allein zu leben. Sie liebte das Tal und das Haus, hatte gründlich entrümpelt, alles hell gestrichen und aus dem düsteren, vollgestopften Cottage ein gemütliches und helles Heim gemacht. Sie bemitleidete ihren Vater wegen seines Alkoholkonsums und ihre Mutter, weil sie es hinnahm und ebenso wenig dagegen ankam wie ihr Vater. Aber Aileen konnte ihren Eltern auch nicht aus der Situation heraushelfen und hatte nur noch sporadisch Kontakt zu ihnen.

Im Übrigen, sagte die Lady, müsse man mit einem Armbruch sicher nicht lange im Krankenhaus bleiben, Aileen  würde  bestimmt  einen  Gips  bekommen  und dann wieder nach Hause geschickt werden. Sie solle anrufen, wenn sie abgeholt werden wolle. Ryszard würde sich sicher gern um die Cottages kümmern, solange Aileens Arm eingegipst war.

Doch,  doch,  das  würde  er  schon  hinkriegen, versicherte die Lady Aileen. Ja, auch das Saubermachen. Insgeheim war sie da nicht so sicher, denn in Wahrheit war sie ebenso überzeugt wie Aileen selbst, dass niemand so putzen konnte wie Aileen, aber sie beruhigte sie, so gut sie konnte. Aileen hatte eine kleine Schwäche für Ryszard, er war groß und stark und fleißig und freundlich, und er liebte die Natur. Aber was das Putzen anging, traute sie ihm nicht allzu viel zu. Ersteres hätte sie niemals zugegeben, Letzteres teilte sie der Lady recht un-umwunden mit. Die Lady gab zu, dass auch sie nicht wirklich von Rys zards Putzkünsten überzeugt sei, sondern ihn eher für einen Mann fürs Grobe halte, sie aber auf jeden Fall irgendeine Lösung finden würde, Aileen solle sich mal keine Sorgen machen, sondern in Ruhe ihren Arm auskurieren. Notfalls würde die Lady eben selbst mit Henry durch die Cottages tanzen. Aileen wusste nicht recht, ob sie über diese Vorstellung lachen durfte oder ob die Lady dann beleidigt wäre, also konzentrierte sie sich lieber darauf, der Lady zu diktieren, was noch getan werden musste, in welchem Cottage ein Wasserkocher  defekt  war, wo in den Schubladen Besteck nachgefüllt und wo die Betten bezogen werden mussten. Glücklicherweise waren um diese Jahreszeit nicht  mehr  alle Cottages durchgehend belegt, so dass das ein oder andere auch mal ein paar Tage ungeputzt bleiben konnte. Sich wenigstens gedanklich auf die Arbeit zu konzentrieren, lenkte sie ab, und als die charmanten Sanitäter eintrafen, war Aileen schon fast wieder zum Flirten zumute. Wenn nur der Schmerz nicht gewesen wäre.


Die Autorin:

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Isabel Bogdan, geboren 1968 in Köln, studierte Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokyo. Lebt in Hamburg, weil es da so schön ist. Sie verfasste zahlreiche Übersetzungen, u.a. von Jane Gardam, Nick Hornby, Jonathan Safran Foer, Jonathan Evison und Megan Abbott. Sie ist Vorsitzende des Vereins zur Rettung des »anderthalb«. 2011 erschien ihr erstes eigenes Buch, Sachen machen, bei Rowohlt, außerdem schrieb sie Kurzgeschichten in Anthologien. 2006 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung (für Tamar Yellin: Das Vermächtnis des Shalom Shepher). Für den Romananfang ihres ersten Romans Der Pfau, der bei Kiepenheuer & Witsch im Frühjahr 2016 erscheint, erhielt sie 2011 den Hamburger Förderpreis für Literatur.


Bild: Smilla Dankert

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